ISIS UND OSIRIS: DIE ÄGYPTISCHE GÖTTERWELT

Isis und Osiris: Die ägyptische Götterwelt
 
Eine Götterwelt ist einer besonderen Art von Religion eigen und stellt eine bestimmte Kulturstufe in der Entwicklung religiöser Vorstellungen dar. Stammesreligionen kennen normalerweise keine Götterwelt, sondern Ahnengeister und einen Hochgott. Monotheistische, auf die Verehrung eines Gottes gerichtete Religionen kennen ursprüngliche Götterwelten allenfalls noch als Engelwelt und/oder Dämonenwelt. Dazwischen stehen die Religionen der frühen Hochkulturen, die wir unter dem Begriff »Polytheismus« zusammenfassen. In ihnen wird eine Vielzahl von Göttern nach Name, Gestalt und Zuständigkeitsbereich bestimmt. Für ägyptische Götter kennzeichnend ist ihre häufige Tier- oder Mischgestalt (Tierkopf und Menschenleib), wodurch sie physiognomisch noch schärfer charakterisiert sind, als wenn sie sich wie die menschengestaltigen griechischen und mesopotamischen Götter nur durch Attribute, Eigenschaften und Kennzeichen unterscheiden würden. Andererseits neigen sie aber dazu, ineinander aufzugehen und zu »Kompositgöttern« wie Amun-Re, Ptah-Sokar-Osiris oder Hathor-Tefnut zu verschmelzen.
 
Diese Götterwelt hat eine bestimmte Struktur; es handelt sich nicht um ein chaotisches Durcheinander verschiedener Gottheiten. In der ägyptischen Religion treten vor allem drei gliedernde Gesichtspunkte hervor: Da ist zunächst die Sprache, die vor allem in Form mythischer Erzählungen die Götter zueinander in Beziehungen der Verwandtschaft und der Handlungs- und Schicksalsverkettung setzt, dann der Kosmos, der das Modell eines Zusammenwirkens vieler verschiedenartiger Mächte vorgibt, und als drittes die politische Organisation des Gemeinwesens, die auch den Göttern in ihren Tempeln und Städten irdische Herrschaft zuweist und alle von Menschen ausgeübte Herrschaft als Repräsentation dieser göttlichen Herrschaft auslegt.Politische Gemeinschaft wird auf solche Weise als Kultgemeinschaft realisiert.
 
Die drei strukturierenden Elemente lassen sich auch als Aspekte göttlichen Wesens verstehen. Ein Gott hat einen Namen, bestimmte Verwandtschaftsbeziehungen und ein mehr oder weniger ausgeprägtes »Ressort« kosmischer (etwa Re als Sonnengott), vegetativer (Osiris als Fruchbarkeitsgott) oder auch kultureller Art (Thoth als Gott der Schrift und Mathematik); er hat (auch) einen Kultort und übt von dort aus eine Art irdischer Herrschaft aus. Der Mensch begegnet den Göttern zum einen in den Mythen, Götternamen, heiligen Formeln und Rezitationen, zum anderen in den kosmischen Phänomenen und drittens in den Tempeln und Kulten.
 
Die Sprache formt die Götter im Medium des Lauts und des Begriffs: Der ausgesprochene Name hat beschwörende Kraft, der heilige Text, vom bevollmächtigten Priester am rechten Ort und zur richtigen Zeit rezitiert, vergegenwärtigt die Gottheit. Die Götter sprechen selbst und sind ursprünglich aus den Worten des Urgottes hervorgegangen.
 
Der Mythos bestimmt die Gottheit als handelnde Person. Der Ägypter hat einen »konstellativen« Personbegriff: Was eine Gottheit ist, bestimmt sich aus der Summe und der Art ihrer Beziehungen zu anderen Gottheiten. Als »Person« wird eine Gottheit nur im Rahmen solcher Beziehungen gedacht, und der Mythos ist die Entfaltung dieser Beziehungen zu Geschichten. Die am reichsten ausgestaltete Geschichte ist der Mythos von Isis, Osiris und Horus, der im alten Ägypten geradezu den Rang eines Staatsmythos besitzt, weil jeder König die Rolle des Horus spielt. Dieser Mythos lässt sich in vier Akte gliedern, die zugleich vier Konstellationen darstellen: Die Suche der Isis, die Aufzucht des Kindes, der Kampf zwischen Horus und Seth und der Triumph des Horus.
 
Seth, der Gott der Wildnis und der Gewalt, hat seinen Bruder Osiris erschlagen, der als König über Ägypten herrschte, und die Teile des zerstückelten Leichnams über Ägypten verstreut. Isis durchstreift das Land, findet die Glieder, setzt den Leichnam wieder zusammen und vermag mithilfe ihrer Schwester Nephthys durch ihre Klagen und Verklärungen den Tod soweit zu überwinden, dass sie von dem vorübergehend Wiederbelebten ein Kind empfangen kann. Dieser Teil des Geschehens spiegelt die Vorstellungswelt des ägyptischen Totenkults, der der Überwindung des Todes dient. Nun muss Isis aus Furcht vor den Nachstellungen des Seth das Kind, Horus, an einem versteckten Ort inmitten der Deltasümpfe zur Welt bringen und aufziehen. Die Welt von Mutter und Kind wird in diesem Teil des Mythos modelliert. Während der erste Akt zahllosen Sprüchen des Totenkults zugrunde liegt, beziehen sich auf den zweiten Akt die Sprüche des Heilungszaubers. Der Kampf zwischen Horus und Seth versetzt uns in eine völlig andere Welt, denn diese Phase des Geschehens ist der Gründungsmythos des pharaonischen Staates. Möglicherweise spielen hier Erinnerungen an vorgeschichtliche Kämpfe mit. Der Konflikt wird als Rechtsstreit ausgetragen. In einem ersten Urteil erhält Horus Unterägypten und Seth Oberägypten; das endgültige Urteil spricht Horus ganz Ägypten zu und findet Seth mit der Herrschaft über die Wüste ab. Dieser Akt feiert den Sieg des Rechts (verkörpert in Horus) über die Gewalt (personifiziert in Seth), die jedoch nicht eliminiert, sondern dem Recht untergeordnet wird. In diesem Mythos wird Seth nicht verteufelt, sondern als ein großer Gott anerkannt. Der Akt endet mit der »Verbrüderung« der Streitenden. Im letzten Akt des Mythos, dem Triumph des Horus, sind wieder Osiris, Isis und Horus die Hauptgestalten: Isis setzt Horus auf den Thron des Osiris. Auf diese Weise macht Horus das seinem Vater angetane Unrecht wieder gut. War er in der zweiten Phase Harpokrates, »Horus das Kind«, so heißt er im vierten Akt Harendotes, »Horus, Rächer seines Vaters«.
 
Jede dieser Konstellationen beleuchtet einen anderen Aspekt der Wirklichkeit: Totenglauben und Jenseitshoffnungen, Krankheit und Heilung, Herrschaft, Gewalt und Gerechtigkeit sowie den Staat als eine göttliche Institution. Wie der Mythos die Götterwelt strukturiert, so modelliert und deutet er die Wirklichkeit.
 
Götter sind aber auch kosmische Mächte, Ursprünge von Kräften und Ordnungen, die die Wirklichkeit begründen und in Gang halten. Zur Wirklichkeit gehört dabei nicht nur, was wir unter Kosmos verstehen (Luft und Feuer, Zeit und Raum, Himmel und Erde, Sonne, Mond, Sterne, Nil, Fruchtland und Wüste, Winde, Regen und vergleichbare Erscheinungen), sondern es zählen dazu auch Ordnungen wie das Recht und Künste wie Schrift, Mathematik, Mumifizierung, Handwerk, Handel und Schifffahrt - für alle diese Bereiche gibt es Götter, weil sie alle zur Welt gehören, deren Gesamtheit als Erscheinungsform einer Götterwelt verstanden wird.
 
Der Ägypter stellt sich unter dem Kosmos weniger einen wohl geordneten Raum als ein Drama vor, einen Prozess, an dessen Gelingen alle Götter beteiligt sind. Der Kosmos ist also ein »kollektives« und »konstellatives« Projekt, in dessen Mittelpunkt der »Sonnenlauf« steht. Jede Phase des Sonnenlaufs ist durch besondere Konstellationen charakterisiert: die Geburt der Sonne am Morgen durch die Mutter, die Himmelsgöttin Nut, die Aufzucht der Sonne durch göttliche Ammen (Isis und Nephthys), die Thronbesteigung der Sonne durch die Auffahrt zur Himmelshöhe, die Konfrontation mit dem Feind, dem Wasserdrachen Apophis, am Mittag durch helfende Götter; der Sonnenuntergang gilt als Rückkehr in den Mutterleib, als Modell des richtigen Sterbens, das durch seine Kreisläufigkeit zur Erneuerung des Kosmos führt, die unterweltliche Vereinigung mit Osiris und die Wiedergeburt am Morgen aus dem Urwasser als Wiederholung der Entstehung der Welt. Jede Phase erfordert ihre spezifischen Bemühungen, um den Triumph des Lichts zu ermöglichen.
 
Der dritte Aspekt der ägyptischen Götterwelt ist ihre kultische Repräsentation auf Erden, also das, was die monotheistischen Religionen als Götzendienst verurteilen. Nach ägyptischer Auffassung begegnet der Mensch den Göttern nicht leibhaftig auf Erden, nicht einmal im Märchen. Das unterscheidet die ägyptische grundsätzlich etwa von der griechischen Kultur und vielen anderen. Die Götterwelt ist nur über eine vermittelnde Sphäre der Repräsentation zugänglich. Diese wird hergestellt durch den Staat, das Priestertum, die Tempel, die heiligen Tiere und die Kultbilder.
 
Nach dem Mythos haben die Götter sich in der Urzeit von den Menschen zurückgezogen in den Himmel, der hoch über die Erde emporgestemmt wurde. Aber in den so entstandenen Freiraum der Trennung hat der Sonnengott die vermittelnden Institutionen der Repräsentation hineingestellt, nämlich Bild, Kult und Königtum.
 
Im Kult organisiert sich die Götterwelt als eine Herrschaft, die die Götter auf Erden ausüben. So hat jede größere Stadt ihren Herrn oder ihre Herrin. Der Schöpfer
 
»gebar die Götter, schuf die Städte, gründete die Gaue,
 
er setzte die Götter ein auf ihren Kultstätten,
 
er setzte ihre Opfer fest und richtete ihre Heiligtümer ein.«
 
Das System ist so eindeutig, dass die Griechen die ägyptischen Städte während ihrer Herrschaft über Ägypten nach ihren eigenen Gottheiten benannten, zum Beispiel Heliopolis nach dem griechischen Sonnengott Helios. Die Tempel der Stadtgottheiten bilden siedlungsgeographische Zentren und Bezugspunkte sozialer Zugehörigkeit. Der Ägypter fühlt sich nicht als Bürger eines Landes, sondern als Verehrer einer Stadtgottheit und Mitglied ihrer Festgemeinschaft.
 
Der Stadtgott repräsentiert die Stadt, die Götterwelt den Staat. Daher ist die Götterwelt wie der Staat hierarchisch geordnet mit einem König an der Spitze, der als Stadtgott der Hauptstadt zugleich der Reichsgott des Landes ist. In der Ramessidenzeit wird diese Institution durch eine Trias, eine Gruppe von drei Göttern besetzt: Amun, Re und Ptah. Der höchste Gott gilt jetzt nicht mehr als Reichsgott, sondern als Weltgott. Er gehört nicht zur Götterwelt; vielmehr gehört die Götterwelt zu ihm als Gesamtheit seiner Namen, Gestalten und Erscheinungsformen. Der Kosmos ist sein Leib. Er umfasst alle anderen Götter. Dieser Gott wird nicht in Bildern repräsentiert; er ist verborgen und allgegenwärtig, Weltgott und Nothelfer zugleich, der »zu dem kommt, der zu ihm ruft«. Über der Idee des Weltgottes wird aber die Vielheit der Götter nicht aufgehoben. In der Ptolemäerzeit repräsentiert das Bild des Ortsgottes nicht nur eine bestimmte Gottheit, sondern diese verweist ihrerseits auf den Weltgott. Der Weltgott hat keinen bestimmten Namen; er wird Amun, Re oder Ptah genannt. In den hermetischen Texten wird seine Namenlosigkeit damit begründet, dass der Einzige keinen Namen hat, weil alle Namen abgrenzen und Gott sich nicht abgrenzen muss.
 
Prof. Dr. Jan Assmann

Смотреть больше слов в «Universal-Lexicon»

ISKANDER →← ISIS

T: 169