JAZZ UND MINIMALMUSIC: REDUKTION AUF ELEMENTARES

Jazz und Minimalmusic: Reduktion auf Elementares
 
Ähnlich wie in einer Bar alles leicht, beschwingt, und doch auf eigene Weise ernst sein kann, das Orchester und die Tänzer spielend arbeiten, so soll nach Vorstellung des Malers Piet Mondrian die neue Gesellschaft den Druck der Arbeit nicht kennen. Mondrians Jazz-Enthusiasmus war grenzenlos. Statt in Konzerte klassischer oder moderner Musik zu gehen, nutzte er in Paris und später in London und New York jede Gelegenheit, die aufreizend rhythmische »Musique nègre« zu hören und danach zu tanzen. Mondrian tanzte gestrafft und geradlinig in Schrittfolge und Haltung - ganz wie er seine Bilder malte. Der Tanz war für ihn eine Art Körpersprache dessen, was er auf der Leinwand mit Farbe und Pinsel auszudrücken suchte. »Echten Boogie-Woogie begreife ich vom Ansatz her als homogen mit meiner malerischen Intention: Zerstörung der Melodie, was der Zerstörung der natürlichen Erscheinung gleichkommt, und Konstruktion durch die fortlaufende Gegenüberstellung reiner Mittel - dynamischer Rhythmus«, bekannte Mondrian 1943Statt eines Gesprenkels unterschiedlich »schneller«, »synkopenhafter« Farbtupfer - die virtuosen Klarinettenfiguren gleichkämen -, wählte er die Wiederholung des »Rechte-Winkel«-Themas, gleichsam eine beibehaltene »Bassfigur«.
 
Die Reduktion von Formen und Farben bei der Übertragung zeitlicher Sequenzen in flächenräumliche Dimensionen sieht Mondrian als Voraussetzung für eine Befreiung des Rhythmus' und damit der Kunst überhaupt an.Der synkopierte und doch ausgewogene Gesamtrhythmus seiner Bilder, die »Interferenzen zwischen Starrem und Ausbrechendem«, wie Theodor W. Adorno sie charakterisiert, führen wiederum ins Zentrum der Jazzmusik.
 
Mondrians Reduktion und Normierung der bildnerischen Mittel war an strukturellen Analogien des Jazz orientiert, der nach dem Ersten Weltkrieg den alten Kontinent eroberte. Spontaneität und Gebrauchsfunktion, Kollektivismus und Optimismus regierten das »plötzliche Erwachen« in Deutschland und Frankreich nach den ersten Jazz-Konzerten. Jean Cocteau war betört von der bestürzenden »tönenden Sintflut« von jenseits des Atlantiks, und dem Helden von Hermann Hesses Roman »Der Steppenwolf« war »der Jazz zehnmal lieber als alle akademische Musik«. Komponisten wie Alban Berg und Kurt Weill, Darius Milhaud und George Gershwin, Erik Satie, Paul Hindemith und viele andere reagierten auf die Herausforderung der neuen klanglichen und rhythmischen Elemente des Jazz.
 
Reduktion als Neubesinnung auf das Elementare der künstlerischen Arbeit, als Abwendung von der herrschenden Kunst der Zeit: Diese Idee taucht in allen Künsten zu allen Zeiten in immer anderen Schattierungen auf. John Cage berief sich 1952 mit seinem berühmt-berüchtigten Schweigestück »4'33« auf die Erfahrung mit den weißen Leinwänden des New Yorker Malers Robert Rauschenberg. Ebenfalls auf die neue amerikanische Kunst der New Yorker Szene der Fünfzigerjahre, genauso aber auf Mondrian, berief sich Cages Freund Morton Feldman: »Wenn Sie Mondrian verstehen, verstehen Sie auch mich. Am Anfang habe ich nichts, am Ende habe ich alles, genau wie Mondrian.«
 
Das Ideal einer Musik ohne sanktionierte Spielregeln, wie es Cage und Feldman Anfang der Fünfzigerjahre vorschwebte, lebte von der New Yorker Atmosphäre einer turbulenten Szene aus bildenden Künstlern, Literaten, Tänzern und Musikern: »Es war ein großer Spaß, eine Art früher Hippie-Gemeinschaft. Aber anstelle von Drogen hatten wir die Kunst. Manchmal herrschte in den Hausfluren mehr Aktivität als in unseren Studios - wenn John mit einer Idee für ein neues Stück in meine Wohnung stürzte, oder ich in seine. Auch Besucher wurden von einem Flur in den anderen befördert.« Cage und Feldman blieben dieser gemeinsamen frühen Zeit verbunden, schlugen jedoch eigene Wege ein; Cage mit dem Anspruch, die Grenzen zwischen Alltagsleben und Kunst zu durchbrechen, Feldman hingegen gerade mit künstlerischen Kontrapunkten zum Alltag. Die suggestive Kraft der reduktiven Strategien ihrer Alterswerke ist heute in einer Vielzahl von Aufführungen und Platteneinspielungen von beeindruckender Popularität präsent.
 
Vergleichbar intensive Kontakte zwischen bildenden Künstlern und Musikern führten in den Sechzigerjahren in der Downtown-Szene New Yorks zum reduktiven Rigorismus der Minimalart. Im Atelier von Yoko Ono veranstaltete 1960 und 1961 der Minimal-Pionier La Monte YoungYoung, La Monte die ersten minimalistischen Konzerte. Als Protagonist der neuen Ästhetik wurde neben Morton Feldman immer wieder Erik Satie genannt.
 
»Auch wenn ich das Vergnügen haben mag, musikalische Prozesse zu entdecken und das musikalische Material zu komponieren, das sie durchlaufen soll - wenn der Prozess einmal installiert und in Gang gesetzt ist, läuft er von selbst.« Steve Reich, von dem diese Gedanken stammen, brachte seine »Piano Phase« 1967 in der damals führenden Galerie für minimalistische Kunst zur Uraufführung. Bildende Künstler und Tänzer waren im Publikum zahlreich vertreten - doch kaum akademisch arrivierte Uptown-Komponisten. Die musikalischen Minimalisten der frühen Sechzigerjahre haben sich seit Mitte der Siebzigerjahre freilich längst zu Maximalisten gewandelt, die zu den formalen und expressiven Klischees der symphonischen westlichen Musiktraditon zurückgekehrt sind. »Für mich war Minimalismus 1974 vorbei«, kommentierte Philip Glass schlicht. Die fundamentalen Prämissen des Minimalismus wurden in der »architektonischen Musik« Phill Niblocks, den »Dream- House«-Installationen La Monte Youngs und den Klangskulpturen Alvin Luciers aufgegriffen. Entgegen der gängigen Interpretation von Minimalart als Chiffre der Affirmation des Bestehenden enthält die Ökonomie der Mittel, recht besehen, subversives Potenzial. Für Alvin Lucier jedenfalls enthüllt »die Tatsache, dass viele seiner Arbeiten sehr einfache Mittel anwenden, um ihr Ziel zu erreichen, eine nicht allzu verborgene Botschaft über den Gebrauch von Energie in einer Welt schwindender Ressourcen.«
 
Zu einer ganz anders gearteten Ökonomie der Mittel und Reduktion auf eine Kombination von Dreiklangsbewegungen und Skalen fand Anfang der Achtzigerjahre Arvo Pärt mit seinem »Tintinnabuli-Stil« (Glöckchen-Stil). »Tintinnabuli - das ist ein erstaunlicher Vorgang - die Flucht in die freiwillige Armut: die heiligen Männer ließen all ihren Reichtum zurück und gingen in die Einöde. So möchte auch der Komponist das ganze moderne Arsenal zurücklassen und sich durch die nackte Einstimmigkeit retten, bei sich nur das Notwendigste habend - einzig und allein den Dreiklang.« In Würdigung des 1976 gestorbenen Benjamin Britten, in dessen Musik Pärt das Ideal »seltener Reinheit« für sich entdeckt hatte, komponierte er 1980 den »Cantus in memoriam Benjamin Britten«, sein erstes Werk im Tintinnabuli-Stil. Der Glockenton a wird von den a-Moll-Dreiklangstönen in den Streichern und abwärts gerichteten Ausschnitten aus der a-Moll-Tonleiter umwebt, die immer wieder zu ihrem Ausgangston zurückkehren: »Die Reduktion auf ein Minimum, die Fähigkeit zu kürzen - das ist die Stärke aller großen Komponisten.«
 
Prof. Dr. Hartmut Möller
 
Literatur:
 
Berendt, Joachim Ernst: Das Jazzbuch. Von New Orleans bis in die achtziger Jahre, bearbeitet von Günther Huesmann. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main 71997.
 Danuser, Hermann: Die Musik des 20. Jahrhunderts. Sonderausgabe Laaber 1996.
 Fordham, John: Das große Buch vom Jazz. Musiker, Instrumente, Geschichte, Aufnahmen. Aus dem Englischen. Neuausgabe München 1998.
 
That's Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Klaus Wolbert. Neuausgabe Darmstadt u. a. 1997.

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