REFORMATION UND REICH BIS ZUM AUGSBURGER RELIGIONSFRIEDEN 1555: »WENN DU WEREST IN DEINER TAUFF ERSOFFEN«

Reformation und Reich bis zum Augsburger Religionsfrieden 1555: »Wenn du werest in deiner tauff ersoffen«
 
Martin Luther
 
Bis 1517 hatte er in der Studierstube gekämpft, der junge Mönch Martin Luther — gegen seine »Anfechtungen«, wie er zu sagen pflegte. Was Luther umtrieb, war vor allem die Frage der Heilsgewissheit: Kann ich Gottes Forderungen wirklich genügen, mit meinem unsteten Willen, meinen kärglichen Verdiensten? Woher weiß ich, ob Gott mir gnädig ist? Nicht, weil ich mir das durch gute Werke »verdient« habe, so Luthers Antwort nach langem Ringen mit der spätmittelalterlichen »Werkgerechtigkeit«; Gott selbst ist es, der alle Glaubenden (aber auch nur sie!) durch einen Gnadenakt — »verdient« ist es nicht! — gerecht macht.
 
Nicht derlei Grübeleien in der Mönchszelle machten Luther zu einem bekannten Mann, zum Hoffnungsträger von Millionen. Es war seine Stellungnahme zur Ablasspraxis der Zeit. Was der »Ablass« genau sei, war damals lehramtlich noch gar nicht festgelegt. Die volkstümliche Auffassung war die folgende: Man entrichtet eine bestimmte Geldsumme an die Kirche und ist dafür besser vor den Gefahren des Fegefeuers, des Ewigen Gerichts geschützt. Luther trug 1517 in 95 Thesen gewisse Zweifel an der Ablasspraxis seiner Zeit zusammen und erregte damit ungeheures Aufsehen. Warum? In was für einer Zeit hat Luther gelebt? Zunächst einmal in einer Zeit verbreiteter Kirchenkritik: Dass das Renaissancepapsttum zu viel Geld verschlinge, die Bischofssitze »Spitäler des Adels« seien und die Seelsorge vor Ort, in den Händen ungebildeter Priester mit oft fragwürdigem Lebenswandel, ganz unzureichend sei, fanden viele, fanden die meisten.Jene Kritiker waren aber nicht etwa areligiös — fromm waren ohnehin nahezu alle Menschen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, aber fast hat man den Eindruck, als seien sie es an der Schwelle zum 16. Jahrhundert noch über das sonst übliche Maß hinaus gewesen, wie trunken vor Erlösungssehnsucht, Sinnverlangen. Heiligen- und Reliquienverehrung florierten wie selten, riesige Menschenmassen strömten zu den allfälligen Wallfahrten, glaubten an allerlei alte und neue »Wunder«: Das war die Basis für die ungeheure Resonanz, die Luthers Lehren alsbald finden würden, der Schwingboden dafür — so, wie die notorische Abwesenheit des Kaisers Karl V., ein gewisses Führungsvakuum also, eine politische Voraussetzung für die Ausbreitung dieser Lehren darstellte.
 
Dass Luther seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg angeschlagen habe, ist eine lieb gewordene, populäre Vorstellung, aber wahrscheinlich falsch — frühe Legendenbildung gewissermaßen. Er wird jene Thesen seinen gelehrten Korrespondenzen mit gebildeten Briefpartnern beigelegt haben, alsbald waren sie in Humanistenkreisen bekannt. Freilich nicht nur dort: Weil der Ablass reichlich Geld nach Rom fließen ließ, war auch die Kurie hellhörig — Ketzerprozess, Verhör, Androhung des Kirchenbanns. Die Auseinandersetzung eskalierte: In einer »Disputation« ließ sich Luther zu der Behauptung hinreißen, dass Päpste und Konzilien irren könnten, allein die Bibel, die »Schrift«, sei maßgeblich; das »Schriftprinzip« wurde später zu einem Grundpfeiler lutherischer Theologie. Seit dem 5. Januar 1521 war Martin Luther offiziell zum Ketzer erklärt und dem Kirchenbann unterworfen.
 
Ein Vierteljahr danach kam es zur direkten Konfrontation zwischen dem Augustinermönch und Karl V. — auf dem Reichstag zu Worms. Dabei stand der Fall Luther eigentlich gar nicht auf der Wormser Tagesordnung: Für Karl gab es da nichts mehr zu bereden, dem Kirchenbann hatte die Ächtung seitens des Heiligen Römischen Reiches auf dem Fuße zu folgen. Er hatte eine noch ganz mittelalterliche Vorstellung vom Reich, sah sich als Inhaber der höchsten weltlichen Würde überhaupt, als »Herr des christlichen Abendlandes«, damit auch als Schutzherr des einen, wahren Glaubens. Da ließ er sich weder von irgendwelchen deutschen Fürsten oder Markgrafen dreinreden noch gar von einem kleinen Mönchlein etwas sagen.
 
Die Reichsacht, ein heute unbekanntes Vollstreckungsmittel, eine der schlimmsten Bestrafungsmöglichkeiten nach frühneuzeitlichem Reichsrecht: Sie machte den Geächteten vogelfrei, rechtlos. Freilich, die Wahlkapitulation, die Karl V. 1519 unterzeichnet hatte, forderte vor der Ächtung rechtliches Gehör, und so musste er es schließlich hinnehmen, dass Luther nach Worms geladen wurde. Der Reformator versteifte sich auf das Schriftprinzip und die Gewissenspflichten: »Solange mein Gewissen durch die Worte Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen.« Karl ging auf Luthers Argumente nicht wirklich ein, konnte sie wohl auch nicht verstehen. Er sah sich als Schutzherr der römischen Kirche durch diesen starrköpfigen Neuerer herausgefordert. Stand, wenn sich ein Einzelner gegen die abendländische Christenheit und die ehrwürdige Tradition von Jahrhunderten stellte, nicht von vornherein fest, wer die Wahrheit auf seiner Seite hatte? Das Wormser Edikt verhängte die Reichsacht über Luther. Mit dessen Einverständnis, unter stillschweigender Duldung durch den Landesherrn, Friedrich III., den Weisen, von Sachsen, inszenierten Freunde eine »Entführung« des Geächteten. Als »Junker Jörg« lebte er für einige Zeit auf der Wartburg bei Eisenach.
 
 Eine Massenbewegung
 
Der Ausbreitung seiner Anschauungen tat das keinen Abbruch. Lutherlektüre und »lutherische« Predigt vor allem in den größeren Städten machten die Reformation zu einer (zunächst städtischen) Massenbewegung. In großer Auflage gedruckte, populär geschriebene »Flugschriften« taten das Ihre dazu; hier ist die noch junge Technik des Buchdrucks geschichtsmächtig geworden. In verschiedenen Reichsstädten wurde die neue Lehre in aller Form, per Stadtratsbeschluss, eingeführt.
 
Freilich, gerade in jener Zeit, da »Junker Jörg« auf der Wartburg verborgen wurde, durchlief die junge Bewegung auch eine Reihe von Irrungen und Wirrungen. Unter allerlei Schwarmgeistern und Weltuntergangspropheten wurde Thomas Müntzer der gewichtigste Gegenspieler Luthers. Im Kern liegt der Auseinandersetzung zwischen den beiden Reformatoren die Frage zugrunde, ob die Bibel konkrete Handreichungen, Rezepte für die Gestaltung der sozialen, ökonomischen, politischen Wirklichkeit biete. Luther hielt diese Annahme für kurzschlüssig, der Christ lebte für ihn in zwei deutlich geschiedenen Lebenskreisen — neben dem Reich Gottes existiert das der Welt, und die Welt kann nicht mit dem Evangelium regiert werden, in ihr schaltet und waltet die (von Gott eingesetzte!) weltliche Obrigkeit, sie gewährleistet Ordnung und Ruhe und hat deshalb Anspruch auf Gehorsam. Jener irdische Bereich ist nicht völlig autonom, eigengesetzlich, aber er kennt doch ihm eigene — ja, heute würden wir wohl sagen: »Sachzwänge«. Für Müntzer fielen die beiden »Reiche« im Grunde in eins, die irdische Wirklichkeit war genau und konkret nach den Vorgaben der Bibel (wie er sie verstand) umzugestalten, notfalls mit Gewalt. Die sozialistische Geschichtsschreibung pries Müntzer stets als den eigentlich bedeutenden unter den deutschen Reformatoren, als den »ersten Revolutionär der deutschen Geschichte«. Tatsächlich war Müntzer aber wenig an utopischen Zukunftsentwürfen gelegen, er rechnete mit dem unmittelbar bevorstehenden Weltende und wollte den Boden für die nahe Herrschaft Christi bereiten.
 
 Der Bauernkrieg
 
Auch soziale Anliegen benachteiligter, sich bedrängt fühlender Teile der frühmodernen Gesellschaft konnten sich mit der neuen religiösen Bewegung verbinden. Ein Beispiel dafür ist der Bauernkrieg von 1524/25. Was waren seine Ursachen? Nicht nur blanke materielle Not, der Kampf ums tägliche Brot. Der Bauernstand war wegen verschiedener Neuerungen beunruhigt, die der Aufbau frühmoderner Staatlichkeit mit sich brachte: Verstärkung des obrigkeitlichen Zugriffs, Abbau von Sonderrechten, Einschränkung des Gemeinbesitzes, Steuern. Überall schwanden Freiräume. Überall Neuerungen, die verstörten — wurde nicht alles immer nur schlechter, verstieß es nicht überhaupt gegen die göttliche Ordnung, Zustände zu reformieren, die »schon immer so gewesen waren«? Jenes fortschrittsgläubige 18. Jahrhundert, das uns die Zuversicht vererbt hat, dass Reformen Fortschritt bedeuten, war ja noch weit. Man fühlte sich überfahren, gegängelt, behelligt, ausgenutzt, kämpfte für sein »gutes, altes Recht«, für die Abschaffung aller unbilligen — aber auch aller unbiblischen Lasten. Das »gute, alte Recht« war je und je ein etwas anderes, die konkreten Missstände variierten von Dorf zu Dorf. Die Berufung auf die Bibel, das »reine, unverfälschte Wort Gottes« aber verstand man überall; das begünstigte eine überregionale Ausbreitung der Unruhen. Luthers tatsächlichem Anliegen wurde man dabei nicht gerecht — ein eklatantes Missverständnis und ein folgenreiches! Denn die innige Verbindung der »altrechtlichen« mit der religiösen Begründung war außerordentlich brisant, sie war das Besondere am Bauernkrieg von 1524/25, das, was ihn von all den vielen anderen, lokalen, allenfalls regionalen Bauernrevolten des Mittelalters und der frühen Neuzeit unterscheidet.
 
Ausgebrochen ist der Bauernkrieg im Südosten des Schwarzwaldes. Die Bewegung breitete sich rasch über ganz Oberschwaben aus, erfasste Franken, Thüringen, Teile Sachsens, um schließlich an einer genau kalkulierten Mischtaktik der betroffenen Regenten zu zerschellen: Verträge, begrenzte Reformzusagen — und brutale Gewalt gegen all diejenigen, die sich nicht aus der bäuerlichen Aufstandsfront herausbrechen ließen. In regelrechten »Bauernschlachten« wurden die Aufständischen niedergemacht. Allein die Schlacht von Zabern soll rund 18000 Menschenleben gekostet haben, bei Königshofen wurden 7000, vor Würzburg 5000 Bauern niedergemetzelt. Bei Frankenhausen hatten sich die Aufständischen um Thomas Müntzer geschart, der ihnen wortgewaltig versicherte, Gott sei mit den Untertanen, die Kugeln der Obrigkeit könnten ihnen nichts anhaben. Als die fürstlichen Geschütze ihr furchtbares Werk begannen, sangen die Aufständischen einen Müntzerschen Pfingsthymnus: »Komm, heiliger Geist, Herre Gott«. An die 6000 fielen, das fürstliche Heer zählte nur sechs Opfer. Die Obrigkeit kannte kein Pardon, und sie hatte ein langes Gedächtnis. Den Anführer der Tiroler Aufständischen, Michael Gaismair, ereilte der Tod durch die Hand gedungener Mörder 1532 in Padua.
 
Luther fand es unerhört, dass sich die Bauern unterstanden, die von Gott eingesetzte weltliche Obrigkeit herauszufordern. Er mutete den Bauern leidenden Gehorsam zu, die Landesherren ermunterte er in seiner Kampfschrift »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern«, mit allen Mitteln und nur ja nicht zimperlich gegen die Aufrührer vorzugehen. Diese Parteinahme für die Obrigkeit führte im Volk vielerorts zu einer gewissen Ernüchterung, während sich Luther selbst durch das traumatische Erlebnis des Bauernkriegs in der Ansicht bestärkt sah, dass die Reformation »von oben« eingeführt werden müsse, in bürokratischer Reglementierung und mithilfe des jeweiligen Landesherrn. Die »wilden Jahre« der Reformation waren vorüber, die »Volksbewegung« verlor an Bedeutung. Zu »reformieren«, das war von jetzt an eine Sache vor allem der jeweiligen Territorialobrigkeit, der Fürsten, Grafen, reichsstädtischen Magistrate.
 
 Die »Fürstenreformation«
 
Diejenigen Landesherren, die sich 1526 bereits von der alten Kirche abgewandt hatten, konnten am Speyerer Reichstag desselben Jahres einen bedeutenden Erfolg verbuchen. Warum dies? Karl war mit seinen Kriegen gegen Frankreich beschäftigt; der Statthalter im Reich und jüngere Bruder des Kaisers aber, Ferdinand I., erbte 1526 mit dem Tod Ludwigs II. von Ungarn die Stephanskrone und damit die Aufgabe, das »christliche Abendland« gegen das islamisch regierte Osmanische Reich zu verteidigen; die hart umkämpfte Grenze verlief mitten durch Ungarn. Ferdinand, der zwar gemäß dem Wormser Edikt grundsätzlich daran festhielt, eine Ausbreitung des reformatorischen Glaubens zu verhindern — »wenn du werest in deiner tauff ersoffen!«, sollte Luther einmal polemisieren —, konnte daher keine zweite Front im Rücken brauchen, ja, er war auf finanzielle Unterstützung auch durch lutherische Reichsglieder angewiesen. Die offene Konfrontation im Innern des Reiches wurde erst einmal vertagt; wie die notorische Abwesenheit Karls so gehört auch die Türkengefahr im Osten zu den politischen Voraussetzungen für den raschen Erfolg des Luthertums in Mitteleuropa. Der »Abschied« des Speyerer Reichstags erklärt, jede Territorialobrigkeit solle sich in Sachen Wormser Edikt (damit aber doch im Grunde in der Konfessionsfrage überhaupt!) so verhalten, wie sie es vor Gott und Reichsoberhaupt »hoffe und vertraue zu verantworten«. Fast »lutherisch« wurde hier auf die individuelle Verantwortung vor Gott verwiesen — auf die individuelle Verantwortung des Regenten, nicht die jedes einzelnen Bewohners des Reiches! Auf den Landesherrn kam es künftig an.
 
In aller Form »lutherisch« gewordenen Reichsstädten folgten die ersten Fürstentümer und Grafschaften. Den Reigen eröffnete das einstige Deutschordensland Preußen. Dort und in vielen anderen Territorien des Reiches wurde das Luthertum nun in geregelten, bürokratischen Bahnen »von oben« her eingeführt. Die Methoden waren im Prinzip überall dieselben. Man zog zunächst einmal die Besitzungen der alten Kirche, ihre Klöster und die dazu gehörenden Ländereien ein; es folgten Kirchenvisitationen und, je nach deren Resultaten, mehr oder weniger durchgreifende »Säuberungen«; schließlich errichtete man neue geistliche Aufsichtsbehörden (sie hießen in lutherischen Territorien oft Konsistorium), neue Hierarchien, an deren Spitze nun freilich der Landesherr stand. Als »Notbischof« leitete er »seine« Landeskirche.
 
 Protestation, Konfession, Schmalkaldischer Bund
 
In der Reichspolitik kam es 1529 und 1530 zu schmerzlichen Rückschlägen für die Lutheraner, die ja im Reichstag noch immer eine deutliche katholische Mehrheit gegen sich hatten. Der Speyerer Reichsabschied von 1529 verlangte von denjenigen Landesherren, die sich bislang ans Wormser Edikt gehalten hatten, dies auch künftig zu tun, die anderen sollten »alle weitere Neuerung« unterbinden, auch bei ihnen (also in längst lutherischen Gebieten!) müsse die (katholische) Messe zugelassen sein: Expansionsstopp, Unterminierung des schon Erreichten! Die meisten lutherischen Reichsstände setzten dagegen ihre förmliche »Protestation« (der heute geläufige Ausdruck »Protestanten« geht darauf zurück, seit 1529 wurden Lutheraner in den katholischen Akten so bezeichnet). Weil »in den sachen gottes ere und unser selen haile und seligkeit belangend ain jeglicher fur sich selbs vor gott steen und rechenschaft geben mus«, akzeptierten sie die Mehrheitsentscheidung nicht als für sie verbindlich. Kein Überstimmen in Glaubensfragen — das war für die deutsche Geschichte folgenreich. Was war da- mals nicht alles Glaubenssache! Der Glaube war ja nicht irgendetwas »Privates«, vom Öffentlichen, von der Politik Geschiedenes. Die »Protestation« von 1529 machte den Glaubenszwiespalt zum Riss in der Reichsverfassung, der Reichstag war langfristig in seiner Funktionsfähigkeit bedroht. Die ganze Tragweite, die Brisanz dieser Durchlöcherung des Mehrheitsprinzips würde erst siebzig, achtzig Jahre später deutlich werden.
 
Am Augsburger Reichstag von 1530 nahm Karl V. nach langen Jahren der Abwesenheit vom Reich persönlich teil. Er wünschte »eines jeglichen Gutbedünken, Opinion und Meinung« in der Glaubensfrage »zu verstehen und zu erwägen«. Die Protestanten erhielten also die Chance, ihr Bekenntnis, ihre confessio, darzulegen und zu rechtfertigen. Letzteres ist den Lutheranern mit ihrer confessio Augustana nach Karls Auffassung nicht gelungen. Der Reichstag klang in scharfen Vorwürfen, in Ultimaten und Drohungen aus. Wer die Zeichen der Zeit zu deuten wusste, konnte seit 1530 zumindest ahnen, dass früher oder später ein gewaltsamer Lösungsversuch ins Haus stehen mochte.
 
Der Kaiser zeigte sich feindselig, die Reichsjustiz parteiisch — konnte man noch auf den Friedens- und Rechtsschutz des Reichsverbandes bauen? Musste man sich selbst behelfen? Nicht wenige der mittlerweile protestantischen Landesherren suchten Rückhalt in einem konfessionellen Sonderbündnis, dem Schmalkaldischen Bund. Was diesem zeitweise erhebliches reichspolitisches Gewicht gab, war die Unterstützung durch alle Feinde des Hauses Habsburg in Europa, von Frankreich über England bis hin zu den mit Ferdinand unzufriedenen ungarischen Magnaten. Auch innerhalb des Reichsverbandes betrachteten viele Landesherren, und zwar beider Konfessionen, das habsburgische Regiment mit Missmut. Man argwöhnte, Karl wolle die »viehische spanische servitut« einführen, wolle das Reich zur Erbmonarchie machen. Der Kampf für die »teutsche libertät«, gegen eine zu starke Zentrale, und der Kampf der Lutheraner um ihre reichsrechtliche Anerkennung befruchteten sich eine Zeit lang wechselseitig.
 
Solange Karl mit seinen europäischen Kriegen beschäftigt war, musste er die deutschen Angelegenheiten schleifen lassen. Mal wieder im Reich, hat er es 1541 mit Religionsgesprächen versucht. Am Rand des Regensburger Reichstags loteten Theologen der alten Kirche wie der Augsburger Konfession — unter ihnen Philipp Melanchthon und der Straßburger Reformator Martin Bucer — Kompromissmöglichkeiten aus. Zum erhofften Durchbruch fand man nicht. Wahrscheinlich war Karl seitdem entschlossen, die Sache gewaltsam in seinem, im altkirchlichen Sinne zu entscheiden. Aber erst musste er die wichtigsten der damals virulenten europäischen Konfliktherde entschärfen, um den Rücken frei zu haben. Das dauerte noch Jahre. Nachdem er das umstrittene niederrheinische Herzogtum Geldern erobert und Friedensverträge mit Frankreich sowie den Osmanen abgeschlossen hatte, rüstete er für die militärische »Lösung« der deutschen Konfessionsquerelen. Im protestantischen Herzog Moritz von Sachsen gewann er einen wichtigen Verbündeten — Moritz stach die Kurwürde ins Auge, die die andere regierende Linie des Hauses Wettin besaß. Während Karl den Krieg im Süden, an der Donau eröffnete, marschierte Moritz im Kurfürstentum Sachsen ein.
 
Den militärischen Triumph im Schmalkaldischen Krieg (1546/47) suchte Karl am »geharnischten« Reichtag zu Augsburg in einen politischen umzumünzen — der Reichstag debattierte, während die siegreichen kaiserlichen Truppen (in ihren »Harnischen«) noch im Reich standen! Trotzdem konnte Karl weder die Macht- noch die Glaubensfrage in seinem Sinne entscheiden. Er ließ eine angeblich vermittelnde, tatsächlich aber weitgehend katholische Bekenntnisformel ausarbeiten; sie sollte bis zur endgültigen Beilegung des Konfessionsstreits auf einem Reformkonzil für jedermann im Reich verbindlich sein. Es ist bezeichnend für das Amtsverständnis Karls, dass er allen Ernstes glaubte, er könne, als Kaiser und Herr des christlichen Abendlandes, den Reichsbewohnern ihren Glauben vorschreiben! Wo Karls bewaffnete Truppen standen, musste man dieses »Augsburger Interim« zähneknirschend akzeptieren, anderswo scherte man sich keinen Deut darum. Dass jene Zwangsformel eine tragfähige Lösung des Konfessionsproblems sei, glaubte außer dem Kaiser niemand. Und die Machtfrage? Karl wollte nicht weniger als einen Verfassungsumsturz ins Werk setzen, das Reich in einen »Kaiserlichen Bund« verwandeln, der straff, zentralistisch von ihm geleitet worden wäre. Nichts davon ließ sich realisieren.
 
Warum? Hatte Karl nicht soeben auf dem Schlachtfeld triumphiert? Freilich, eben deshalb drohte er nun auch seinen katholischen Bundesgenossen zu mächtig zu werden. Dem Schulterschluss zwischen katholischen Landesherren und katholischem Kaiser folgte der Schulterschluss aller Landesherren, gleich welcher Konfession, gegen kaiserliche Machtansprüche auf dem Fuße. Die konfessionelle Frontlinie und die zwischen »teutscher libertät« und Zentralismus verliefen mal parallel, mal überkreuzten sie sich. Diese auf den ersten Blick verwirrende Zweifrontensituation prägt die frühneuzeitliche deutsche Geschichte.
 
In einer ungemütlichen Lage befand sich um 1550 herum Moritz, der »Judas von Meißen«. Zwar hatte ihm sein Engagement an der Seite des katholischen Kaisers Landgewinne und den ersehnten Kurfürstentitel eingebracht. Aber die Glaubensgenossen schäumten; würden sie, würden habsburgfeindliche Kräfte eines Tages vollends die Oberhand im Reich gewinnen, würde die Rache fürchterlich sein. Der geniale Taktiker Moritz stellte sich da lieber selbst an die Spitze der Bewegung. In einer atemberaubenden Kehrtwendung rüstete er für einen Kriegszug gegen Karl. Frankreich unterstützte ihn finanziell. Zusammen mit dem Landgrafen Wilhelm von Hessen und dem Kulmbacher Markgrafen Albrecht Alcibiades schlug er im Frühjahr 1552 los. Für Karl war es eine unliebsame Überraschung. Er stand ohne Truppen da, hatte gar nicht recht mitbekommen, was sich da im Reich gegen ihn zusammengebraut hatte — vielleicht zeigt nichts deutlicher, wie ihm die Zügel zu entgleiten begannen. Die Truppen der Fürstenallianz stießen über Augsburg nach Tirol vor, Karl floh aus Innsbruck, um in Villach zitternd und zagend abzuwarten, ob die feindlichen Truppen auch noch die letzten Alpenpässe überqueren würden. Moritz dachte gar nicht daran. Sein Ziel war letztlich kein militärisches, er bildete sich nicht ein, die europäische Großmacht Habsburg dauerhaft auf dem Schlachtfeld niederhalten zu können. Er wollte das kurzfristige Dilemma Karls für Verhandlungen über die Konfessionsfrage nutzen, hat sich im »Fürstenkrieg« eine günstige Ausgangslage dafür geschaffen.
 
 Vom Passauer Vertrag zur Abdankung Karls V.
 
In Linz, dann in Passau verhandelten die Kriegsfürsten mit mehreren neutral gebliebenen Landesherren und mit Ferdinand. Mündlich hatte man sich bereits auf eine dauerhafte Lösung, einen »Religionsfrieden«, verständigt. Aber Karl, der als Reichsoberhaupt denn doch zustimmen musste, tat genau das nicht. Mit dauerhaften Zugeständnissen an die Ketzer wollte er sein Gewissen nicht belasten. So war der Passauer Vertrag am Ende doch wieder nur eine Übergangslösung, ein Waffenstillstand — bis zum nächsten Reichstag, der darüber befinden sollte, ob er selbst, ein Gelehrtenkolloquium oder ein Konzil die endgültige Entscheidung herbeizuführen habe. Derartige Provisorien kannte man schon; sie durchziehen das ganze Reformationszeitalter. Immer wieder kam man überein, sich für ein paar Jahre zu vertragen. Aber ein Waffenstillstand ist kein Friede! Immerhin, in Passau war man einem tatsächlichen »Frieden« doch schon sehr nahe gekommen. Die bislang maßgebliche Überzeugung, dass jeder Friede die vorherige Wiedervereinigung der Konfessionen voraussetze, wich der Einsicht, dass jetzt die Zeit für einen »äußerlichen«, »politischen« Frieden gekommen sei. Es galt, die jeweiligen Besitzstände abzugrenzen und vor gewaltsamen Übergriffen zu schützen. Also mussten sich beide Seiten auch fürs Erste mit dem momentan Erreichten zufrieden geben, musste der Katholizismus seine Hoffnungen fahren lassen, verlorenes Terrain zurückzuerobern, der anscheinend immer noch dynamischere Protestantismus aber weitere Expansionsgelüste. Die Theologen konnten sich ja weiter zanken, sich vielleicht auch eines Tages wieder vertragen... Abwarten wollte man das nicht, jetzt waren zunächst einmal die Politiker gefragt. Sie saßen drei Jahre später wieder beisammen, auf dem Augsburger Reichstag. Die Zeiten waren nicht ruhiger geworden, im Gegenteil. Dem Fürsten- folgte der Markgrafenkrieg auf dem Fuße. Er zeigte, wie gefährdet das Landfriedensgebot der Reichsverfassung war, das vermeintlich Geschädigte auf den ordentlichen Rechtsweg verwies, das ihnen untersagte, dem Übeltäter den Fehdehandschuh hinzuwerfen, sich auf eigene Faust an ihm, an seiner Sippe schadlos zu halten, derart auf Unrecht nur immer schlimmeres Unrecht zu häufen. Ganz im Stil mittelalterlicher Fehdekriege machte der Kulmbacher Markgraf Albrecht Alcibiades die nähere und weitere Umgebung unsicher, durch Raubzüge, Erpressungen, Brandschatzung. Moritz von Sachsen versuchte ihn zur Räson zu bringen — und fiel auf dem Schlachtfeld. Der Kaiser aber, der Friedenswahrer, der vermeintliche Herr des christlichen Abendlandes, lavierte hin und her und verlor dadurch vollends seine Glaubwürdigkeit. Er hatte keine Lust mehr. Alles zerrann ihm zwischen den Fingern. Keines seiner hoch gesteckten Ziele hatte er erreicht. Auf dem Augsburger Reichstag von 1555 vertrat ihn bereits Ferdinand — sollte sich dieser durch etwaige Zugeständnisse an die Ketzer doch die Seele beschweren! Karl resignierte, seinen Lebensabend verbrachte er in einem spanischen Landhaus, das er neben ein Kloster bauen ließ.
 
 Der Augsburger Religionsfriede
 
Ein Reich in Auflösung und Streit, ein Kaiser, der nicht mehr regieren wollte — am Ende mussten auch Ferdinand und die katholischen Fürsten einsehen, dass das eigentlich Undenkbare unausweichlich geworden war. Man musste mit den Ketzern Frieden schließen. Man tat es, in jenem Teil des Augsburger Reichsabschieds, der bald als Religionsfriede bezeichnet werden sollte. Gewiss, es war ein »äußerlicher«, ein »politischer« Friede. Die Konfessionen sollten durch den Augsburger Reichsabschied nicht wieder vereinigt werden, er stellte vielmehr Regeln auf für ein friedliches Miteinander »in währender Spaltung der Religion«. Der Religionsfriede war nicht wieder ein Provisorium; er sollte gelten, bis sich die Theologen eines Tages zusammengerauft haben würden — die Utopie einer Wiedervereinigung der Konfessionen wurde nicht preisgegeben, aber für den Moment doch hintangestellt. Der Religionsfriede ist ein sehr schwieriger Text, viele diffizile Auslegungsfragen haben später das Verhältnis der Konfessionen zueinander belastet. Dabei sind die Grundgedanken an sich einfach. Die Anhänger des Augsburger Bekenntnisses wurden reichsrechtlich den Katholiken gleichgestellt. Die jeweilige Obrigkeit — der Landesherr beziehungsweise, in Reichsstädten, der Stadtrat — konnte sich frei für eine der beiden Konfessionen entscheiden. Diese Entscheidung war keine private, sie band das ganze Territorium. Die Obrigkeit entschied darüber, welcher Konfession man in ihrem Herrschaftsbereich anzuhängen hatte. Und wenn sich ein Untertan nicht fügen wollte, fügen konnte? Dann durfte er immerhin auswandern; Zwangsbekehrungen waren somit ausgeschlossen. Er durfte — in der Praxis hieß das freilich fortan: Er musste! Man brauchte sich seinen Glauben nicht vorschreiben zu lassen, wohl aber hatte man, so man sich mit der Entscheidung des Landesherrn nicht abfinden konnte, sein Bündel zu packen, sein Glück und Seelenheil woanders zu suchen. Die Grundgedanken des Religionsfriedens sind, wie gesagt, einfach und klar. Der Teufel steckte im Detail. Aber das sollten erst spätere Generationen schmerzlich erfahren.
 
Dr. Axel Gotthard
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Gegenreformation und Reform im Reich: Erneuerung des Alten
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Heiliges Römisches Reich deutscher Nation (1495 bis 1618): Ohnmächtiger Riese
 
Literatur:
 
Elton, Geoffrey R.: Europa im Zeitalter der Reformation. 1517-1559. Aus dem Englischen. München 21982.
 Fuchs, Walther Peter: Das Zeitalter der Reformation. Taschenbuchausgabe München 1989.
 
Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Ausstellung zum 500. Geburtstag Martin Luthers, herausgegeben von Gerhard Bott. Ausstellungskatalog Germanisches Nationalmuseum Nürnberg. Frankfurt am Main 1983.
 Moeller, Bernd: Deutschland im Zeitalter der Reformation. Göttingen 31988.
 Rabe, Horst: Reich und Glaubensspaltung, Deutschland 1500-1600. München 1989.
 Schilling, Heinz: Aufbruch und Krise. Deutschland 1517-1648. Sonderausgabe Berlin 1994.
 Schulze, Winfried: Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert. 1500-1618. Frankfurt am Main 21996.

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