SAKRALARCHITEKTUR IN GRIECHENLAND: SÄULE UND GEBÄLK

Sakralarchitektur in Griechenland: Säule und Gebälk
 
Die beherrschenden Bauten in den griechischen Heiligtümern sind in aller Regel die Tempel. Seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. haben sie eine stets wiederkehrende Grundform. Der langrechteckige Kernbau wird an allen vier Seiten von Säulenhallen eingefasst. Auf ihnen ruht das einfache Satteldach. Die verbreitete Vorstellung, dass der Tempel das Herzstück eines jeden Heiligtums sei, führt am Wesen der griechischen Religion vorbei. Ort des praktizierten Kultes ist - von wenigen Ausnahmefällen abgesehen - stets der Altar unter offenem Himmel. Ein Tempel war für den Vollzug der Kulthandlungen nicht nötig. In nahezu allen Heiligtümern sind Tempel denn auch erst lange nach der Gründung des Kultes errichtet worden.
 
Feste Gebäude, aus denen sich dann die eingangs beschriebene charakteristische Form des Ringhallentempels entwickelte, benötigte man in erster Linie für die sichere und witterungsgeschützte Deponierung von Weihgeschenken. So ist die ursächliche Funktion des Tempels wohl die eines »Schatzhauses«. In einem solchen der Gottheit geweihten Schatzhaus wurden auch die Gerätschaften aufbewahrt, die man für die Ausübung des Kultes benötigte. Oftmals - aber beileibe nicht immer - gehörte dazu auch ein Bild der Gottheit, das unmittelbar in den Kult einbezogen war, etwa indem man es in der Prozession mitführte.
 
Eine andere Wurzel des Tempelbaus liegt in der alten Tradition, nach der die führenden Männer einer Sippe ihre Beratungen im Rahmen eines gemeinsamen Mahls am heiligen Herdfeuer abhielten.Mancher Tempel steht auf den Spuren eines solchen »Heiligen Herdhauses«, zum Beispiel im Apollonheiligtum von Thermos in Nordwestgriechenland. Dass diese Funktionsbauten alsbald mit säulengestützten Hallen umgeben wurden, hat vermutlich eine ganz pragmatische Ursache: man gewann auf diese Weise witterungsgeschützte Aufenthaltsplätze für die Besucher, die von hier aus dem Festtreiben auf dem Sakralgelände zuschauen konnten. Aus diesen Unterständen entwickelte sich dann die künstlerisch ausgereifte Form der Ringhallentempel.
 
Nach der Gestalt der Säulen und dem Aufbau der tragenden Konstruktion sind zwei Architekturstile zu unterscheiden, die sich anfänglich auch geographisch deutlich trennen lassen. Die frühesten Tempel auf dem Festland entstanden im Einflussbereich der Stadt Korinth. In Anspielung auf die Zugehörigkeit der Stadt zum dorischen Griechentum wird diese Bauordnung »dorisch« genannt. Hier gab man den Säulen eine schlichte Form. Sie stehen unmittelbar auf dem Boden des dreistufigen Tempelsockels, verjüngen sich nach oben und werden von einem runden bauchigen Polster (Kapitell) bekrönt. Der stämmige Säulenschaft erfährt eine Belebung durch flachkonkave vertikale Mulden, die scharfkantig aufeinander stoßen. Eine kaum wahrnehmbare Anschwellung etwa in der Säulenmitte nimmt der Stütze die Starre.
 
Als horizontale Verstrebung der Säulen liegen über den ausladenden Kapitellen zwei Steinlagen. Die untere besteht aus glatten Quadern, die jeweils den Abstand zweier Säulen überspannen. Über diesem »Architrav« folgt ein Zierstreifen, der aus der wechselnden Abfolge von quadratischen Platten (»Metopen«) und schmalen Zwischengliedern mit vertikal gesetzten Kerben (»Triglyphen«) besteht. Die Metopenfelder sind oftmals mit figürlichen Darstellungen verziert. Die durch das Satteldach gebildeten Giebelfelder wurden spätestens seit dem frühen 6. Jahrhundert v. Chr. mit figürlichen Szenen geschmückt.
 
In dem ostgriechischen Siedlungsgebiet der ionischen Griechen haben die gleichen Formen insgesamt ein grazileres Aussehen. So sind die Säulen deutlich schlanker. Sie stehen auf kunstvoll profilierten, reich ornamentierten Basen. Auch die Kapitelle tragen zur Schmuckfreude der ionischen Ordnung bei. Als würden sie unter der Last des Daches zerdrückt, quellen sie seitlich über den Säulenschaft hinaus und rollen sich dabei volutenförmig auf. Eine einfache, wiederum reich verzierte Balkenlage vermittelt zwischen dem Säulenkranz und dem Dach. Wenn uns die dorischen Tempel heute ungleich wuchtiger erscheinen als die Bauten der ionischen Ordnung, dann darf man darüber nicht vergessen, dass die Tempel - seien sie aus ungebrannten Lehmziegel, aus grobem Kalkstein oder feinstem Marmor - stets farbig gefasst waren, und damit eine für uns kaum vorstellbare Lebendigkeit ausstrahlten.
 
Unter dem Eindruck der gefälligeren ionischen Ordnung haben die Festlandgriechen seit der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. ihrem strengen dorischen Stil mehr und mehr Züge der in Ionien entwickelten Architektur einverleibt. Als Neuschöpfung ist aus diesem Bemühen das korinthische Kapitell hervorgegangen, das die Allansichtigkeit des dorischen Kapitells mit der ornamentalen Ausgestaltung des ionischen Kapitells verbindet. Erstmals ist ein solches Kapitell für den um 400 v. Chr. errichteten Apollontempel von Bassai bezeugt. Es verbreitete sich überall.
 
Erst vor wenigen Jahren gelang es, im Herzen der Kykladen, auf den Inseln Paros und Naxos, eine zusätzliche Spielart der ionischen Ordnung zu erkennen. Das bisher als architektonischer Sonderfall betrachtete Schatzhaus, das die Bewohner der Kykladeninsel Siphnos um 525 v. Chr. in Delphi geweiht hatten, ist ein markantes Beispiel dieser »Kykladenarchitektur«. Das Hauptmerkmal dieser Ordnung ist die ausschließliche Verwendung von Marmor - dies auch bei der gesamten Dachkonstruktion. Statt ihr Äusseres mit einer umlaufenden Säulenhalle zu schmücken, sind die Außenwände ornamental oder auch figürlich geschmückt - zum Beispiel mit einem umlaufenden Fries an der Mauerkrone. Themen dieses archaischen Meisterwerkes sind die Mythen vom Kampf der olympischen Götter mit den Giganten, der Kampf um Troja und die Götterversammlung. Auf das Vorbild der Kykladenarchitektur geht der Schmuck des Parthenon-Kernbaus mit einem umlaufenden Fries zurück.
 
Prof. Dr. Ulrich Sinn
 
Literatur:
 
Gruben, Gottfried: Die Tempel der Griechen. Aufnahmen von Max Hirmer. München 41986.
 Hampe, Roland und Simon, Erika: Tausend Jahre frühgriechische Kunst. 1600—600 v. Chr. München 1980.
 Lauter, Hans: Die Architektur des Hellenismus. Darmstadt 1986.
 Travlos, John: Bildlexikon zur Topographie des antiken Athen. Tübingen 1971.

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